Die Geschichte des Kreuzes ist komplex, vielschichtig und bis heute aktuell. Vom antiken Hinrichtungsinstrument wurde es im 4. Jahrhundert nach der Christianisierung des Römischen Reichs zum zentralen Symbol des Sieges Christi über den Tod. Im Mittelalter entwickelte es sich zum sichtbaren Zeichen des Glaubens und der Frömmigkeit. In Bayern wurde das Kreuz im Alltag oft lebensbestimmend: Im Herrgottswinkel bildete es das Zentrum des häuslichen Glaubens und der täglichen Andacht. Seit dem Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts 1995 und dem sogenannten Kreuzerlass von 2018 wird das Kreuz in Bayern sowohl als religiöses Bekenntnis als auch als Ausdruck der kulturellen und regionalen Prägung gesehen.
In der Schnaittacher Sammlung befinden sich rund hundert Kreuze unterschiedlicher Art und Erhaltung, deren einstige Eigentümer Gottfried Stammler teils mit Bleistift auf der Rückseite vermerkte. Es sind meist Hauskreuze oder Kruzifixe – als Wand- oder Tischkreuze gestaltet – und stammen aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Sie waren selbstverständlicher Bestandteil bäuerlicher Wohnräume und bildeten das Zentrum des sogenannten Herrgottswinkels. Im Unterschied zum schlichten Kreuz, das nur die Form des Kreuzes Christi zeigt, trägt ein Kruzifix stets den Corpus Christi, also die Figur des Gekreuzigten. Dazwischen stehen die sogenannten Arma-Christi-Kreuze: Sie erzählen die Leidensgeschichte Christi in Symbolen – teils mit kleiner Christusfigur, teils ganz ohne. Der lateinische Begriff „arma“ bedeutet „Waffen“ – gemeint sind die „Waffen Christi“, mit denen er nach christlichem Verständnis Sünde und Tod besiegte.
Die Darstellung der Arma Christi entstand im späten Mittelalter. Erste Beispiele finden sich im 13. Jahrhundert in Buchmalereien. Ab dem 14. Jahrhundert erscheinen die Leidenswerkzeuge häufig in Verbindung mit dem Schmerzensmann oder dem Kreuz. Ursprünglich umfasste das Symbolensemble nur zentrale Passionselemente wie Kreuz, Nägel, Dornenkrone, Lanze und Schwamm. Im Lauf der Zeit kamen immer mehr Gegenstände hinzu. So zeigen spätere Haus- und Tischkreuze eine erstaunliche Fülle an Details: Geißelsäule, Leiter, Zange, Hammer, Würfel, Hahn, Judas’ Geldbeutel, Kelch, Pilatus’ Schüssel, Schwammstange, Schriftband, Laterne, Fackel, Schleuder, Schwert oder das Schweißtuch der Veronika. In der Volkskunst verdichtete sich daraus ein wahres „Leidensinventar“, das die Passion Christi auf engem Raum vergegenwärtigt.
Ihre Herstellung spiegelt die ganze Bandbreite zwischen individueller Handarbeit und früher Serienproduktion. In bekannten Schnitzzentren wie Oberammergau oder im Grödnertal entstanden im 18. und 19. Jahrhundert große Mengen solcher Kreuze, die über Wallfahrtsmärkte und Hausierhandel weite Verbreitung fanden. Daneben fertigten Bauern, Handwerker oder Klosterfrauen kleine Andachtsstücke in Eigenarbeit – etwa ein liebevoll geschnitztes, wenn auch unvollständig erhaltenes Kreuz mit den Arma Christi ohne Corpus. Besonders hervorzuheben ist eine Miniaturdarstellung der Arma Christi, aus dünnem Holzspan geschnitten und unter einer kleinen, leider beschädigten Glasglocke aufbewahrt.
Andere Stücke hingegen zeigen bereits deutlich die Zeichen der aufkommenden Massenproduktion: roh geschnitzte, schwarz gefasste Holzkreuze, einfach bemalt, mit aufgesetzten Zinngitterauflagen; erschwinglich, leicht zu transportieren, „für jedermann“ gedacht. Gemeinsam ist allen die Funktion als Andachtsobjekt, das die Heilsgeschichte Christi bildlich vor Augen führte.
© Dr. Nicole Brandmüller-Pfeil


















